Die Geschlechter-Regeln

von Marla Louise, übersetzt von Laura

In der Gender-Community gibt es eine feine gesellschaftliche Rangfolge.

  1. An der Spitze stehen die Transsexuellen, die sowohl ihre Geschlechterrolle als auch ihre äußeren Geschlechtsmerkmale ändern wollen (oder sie schon geändert haben) und damit im Prinzip ihr Geschlecht ändern.
  2. Eine Stufe unter ihnen stehen die Transgender, die wahrscheinlich ihren Körper etwas verändert haben und, was viel wichtiger ist, die ihre bei der Geburt zugeordnete ›Geschlechtsrolle‹ geändert haben.
  3. Unter diesen beiden stehen die Transvestiten. Innerhalb der Kategorie der Transvestiten würde ich zwei wesentliche Untergruppen sehen. Die eine ist der »Bigendered Transvestit«, dessen Ich beide Geschlechter umfasst, d.h. er wechselt zwischen den Geschlechtern hin und her und ist je nach Bedarf Angehöriger des einen oder des anderen Geschlechts. Die zweite Untergruppe der Transvestiten würde ich den »erforschenden Transvestiten« nennen. Das ist jemand, der seine bei der Geburt zugeordnete ›Geschlechtsrolle‹ nicht verlässt; aber er ist bereit, gesellschaftliche Regeln wahrzunehmen und zu brechen, um das andere Geschlecht zu erforschen. Das kann er aus vielerlei Gründen machen. Einer der naheliegendsten ist sexuell, aber das ist gewiss nicht der einzige Grund.
  4. Und schließlich stehen unter all diesen die »Normalos« (1), die in ihrer seit der Geburt festgelegten Geschlechtsrolle leben und sie auch niemals verlassen, auch nicht probehalber.

Warum diese Hierarchie in genau dieser Ordnung? Die Hierarchie scheint die Bereitschaft jedes einzelnen, seinen Körper zu ändern, zu betonen. Nun unterstütze ich keinerlei Rangordnungen, aber ich möchte eine Sicht auf eine andere Hierarchie präsentieren, und zwar so, dass sie die jetzige Sicht ein wenig durcheinander bringt. Eine Sicht, die die Prioritäten etwas umordnen könnte. Hier liegt die Betonung darauf, diese Kategorien im Hinblick auf die gesellschaftlichen »Geschlechter-Regeln« zu betrachten.

Die Gesellschaft hat einige sehr strenge Regeln über die Geschlechter aufgestellt, die wir alle gut kennen. Normalerweise bleiben sie ungeschrieben, aber ich möchte sie alle drei darlegen …

Eine Bemerkung zu diesen Regeln. Viele Mitglieder unserer Gesellschaft glauben an diese Regeln. Für sie ist das kein Lippenbekenntnis, sondern ein so fester Glaube, dass sie keinen Unterschied zwischen ihrem Glauben und der ›Realität‹ wahrnehmen. Für sie sind diese Regeln ebenso wenig zu brechen wie das Gesetz der Schwerkraft.

Was haben diese drei Regeln mit den Transgender-Kategorien zu tun? Lasst uns zuerst die größte Kategorie anschauen, die »Normalos«. Sie folgen allen drei Regeln. Das machen sie wahrscheinlich aus zwei Gründen. Entweder glauben sie an die Geschlechter-Regeln und können es einfach nicht begreifen, dass sie jemand durchbrechen kann. Oder sie finden, wenn das nicht der Fall ist, dass ihr Ich gut mit diesen Regeln klarkommt und finden keinen Grund, die Regeln zu verletzen.

Was geschieht nun, wenn wir nur die erste Regel verwerfen, aber immer noch an die Regeln zwei und drei glauben bzw. ihnen folgen? Wir haben die Gruppe der Menschen, die man Transsexuelle nennt. Sie lehnen die erste Regel ab, indem sie ihr Geburtsgeschlecht zurückweisen, aber sie folgen immer noch den Regeln zwei und drei. Sie ändern ihre Genitalien, um diese ihrer geschlechtlichen Identität anzupassen und folgen dem Zweigeschlechtersystem, indem sie eine und nur eine einzige Geschlechterrolle annehmen. Ihr Lebensweg lehnt nur die erste Regel ab, indem sie ihre ursprüngliche Geschlechterrolle zurückweisen. Wie die »Normalos« stimmen sie den Regeln zwei und drei zu, da sie an diese ungeschriebenen Gesetze ›glauben‹ oder weil sie finden, dass ihr Ich ganz gut innerhalb der Regeln zwei und drei funktioniert.

Nun zu den Transgendern. Sie brechen die Regeln eins und zwei, aber folgen immer noch der dritten Regel bzw. glauben an sie. Denn sie sie identifizieren sich noch immer mit einer einzigen Geschlechterrolle.

Schließlich haben wir die Bigendered-Transvestiten. Um zu existieren, müssen sie in ihrer Seele alle drei Regeln ablehnen. Denn wenn sie an nur eine von ihnen glaubten, würde es sie daran hindern, ihr Selbst zu leben. Sogar der experimentierende Transvestit muss bereit sein, diese Regeln von seiner Überzeugung weit genug zu abzugrenzen, damit er diese Regeln zum Zweck des Erforschens brechen kann.

Was heißt das nun alles? Ich würde vorschlagen, dass die angenommene Reihenfolge von den »Normalos« über die Transvestiten und die Transgendern hin zu den Transsexuellen nicht die einzige Hierarchie ist. Es gibt eine andere Hierarchie, die auf der Ablehnung der gesellschaftlichen Geschlechter-Regeln und dem Glauben daran basiert. Abhängig davon, ob das Ablehnen der gesellschaftlichen Geschlechter-Regeln ›gut‹ oder ›schlecht‹ ist, können wir nun eine unterschiedliche ›Entwicklung‹ in der Transgender-Welt konstruieren. Denn es gibt sowohl eine gerechtfertigte Entwicklung von den »Normalos« über die Transsexuellen, die Transgender hin zu den Transvestiten als auch die umgekehrte Richtung.

Eine andere Bemerkung: Intoleranz ist eines der Hilfsmittel, derer sich die Gesellschaft bedient, um ihren ›Regeln‹ Nachdruck zu verleihen. Eine intolerante Person ist jemand, der so stark an eine ›gesellschaftliche Regel‹ glaubt, dass er bereit ist, Mitglieder der Gesellschaft, die nicht dieser gesellschaftlichen Regel folgen, abzulehnen, zu demütigen und/oder ihnen Leid zuzufügen. Demzufolge versuchen die Intoleranten der »Normalos« in unserer Gesellschaft, uns alle zu demütigen. Das bedeutet nicht, dass alle »Normalos« intolerant sind, aber es heißt, dass Intolerante an mindestens eine der drei Geschlechter-Regeln so sehr glauben müssen, dass sie bereit sind, anderen diese Regeln aufzwingen zu wollen.

In ähnlicher Weise bin ich zufällig an ein paar intolerante TS geraten. Sie glauben an die Regeln zwei und drei und sind bereit, jeden zu demütigen, der diesen Regeln nicht folgt! Noch einmal – das bedeutet nicht, dass alle TS intolerant sind (sie sind weit davon entfernt!), aber es bedeutet, dass ein TS gegenüber TGs und TVs intolerant sein kann, und das erklärt auch die Intoleranz, die wir sehen.

Aber bevor ihr TVs euch für etwas Besseres haltet, möchte ich andeuten, dass sich einige TVs ebenfalls intolerant im Hinblick auf die Geschlechter zeigen. Das kann die schlimmere Form der Intoleranz sein, wenn sie für sich selbst willens sind, die Regeln zu brechen, dann aber auf andere herabsehen, die die Regeln vollständig ablehnen. Vielleicht versuchen sie auch, uns eine andere gesellschaftliche Regel aufzuzwingen: »Das Fortpflanzungssystem jedes einzelnen ist tabu.«

An welche »gesellschaftlichen Geschlechter-Regeln« glaubst Du?


(1) Anmerkung: Im Ursprungstext wird von »straights« gesprochen, das meint ursprünglich Menschen, die nicht homosexuell sind. In diesem Zusammenhang hier ist also jemand gemeint, der keinerlei Ambitionen hat, sich in Richtung des anderen Geschlechts zu bewegen, jemand, der niemals auf die Idee käme, eben z.B. Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen. Die Übersetzung »Normalos« passt nur bedingt, weil Normalität bekanntlich schwer zu bestimmen ist: Wer ist schon normal?
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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Besuche ihre Website: http://members.aol.com/marlalouis


Seite angelegt am 09.05.2004, zuletzt geändert am 23.11.2006.