The Grace & Lace Letter: »Ich will, dass es immer so weiter geht«

von Jennifer Finney Boylan, übersetzt von Laura.

Als ich zwanzig war, stieg ich an einem Oktobertag mit zwei Freunden auf das Dach eines verlassenen Gebäudes, und einige Momente später waren wir von Tausenden von Staren umgeben, die alle nach Süden zogen. Wir hatten keine Vögel zu finden erwartet, als wir auf dieses Dach stiegen –, ich weiß nicht, was wir erwarteten – aber nachdem wir dieses erstaunliche Schauspiel erlebt hatten, legten wir uns auf den Rücken und beobachteten den vor Bewegung und Leben wogenden Himmel.

Ich hätte dieses Wort damals nicht verwendet, aber heute würde ich den Zustand, in dem wir uns befanden, als einen Zustand der Gnade beschreiben.

Gnade ist ein schwer fassbarer Begriff, aber wir wissen alle, was es ist. Es ist, als ob die Dinge passen, als sei man, wie T.S. Eliot schrieb, am »ruhigen Punkt der sich bewegenden Welt«.

Von einem jungen Schriftsteller mit dem Namen Michael Byers gibt es eine Geschichte mit dem Titel »Die schönen Tage« in den neuesten »Besten Amerikanischen Kurzgeschichten« (2000), und die Gnade ist ein Hauptthema in seinem Stück. Er beschreibt einen jungen Mann – nicht viel älter als ich war, als ich mit meinen Freunden auf dieses Dach stieg – der herausfindet, dass »als er es am wenigsten erwartete, ihn diese unsagbare geistige Größe überkam, dass ihm die Welt in ihrer Vollkommenheit fast platonisch schien. Die Empfindung, dass er einer unter vielen – und doch immer noch einer, ein einzelnes Wesen war, dem alles, was er tun wollte, erlaubt war mit diesem Planeten, der so reich an Schönheit war, auf die er stoßen konnte, auf allen Seiten, in jeder Form – dies alles verband sich, um sein Herz über das Gewöhnliche zu erheben, und machte ihn unsagbar freudig, als es kam.«

Ich habe Gnade in diesem Sinn jetzt und immer wieder in meinem Leben gefühlt. Ich denke, die Suche nach dieser Empfindung ist eines der Dinge, die uns immer weitermachen lässt. Ihr Erscheinen trifft mich immer wie ein Wunder. Wenn ich in ihrer Gegenwart bin, denke ich immer, dass es vielleicht einen Gott, einen Zweck, ein Geheimnis gibt, das aus einem bestimmten Grund dieses ganze Leben zusammenhält, selbst wenn dieser Grund meist über meinen Verstand hinausgeht.

Ich fühlte es, als ich den ersten Schrei meiner Kinder hörte. Ich fühlte es, als ich sah, wie meine Frau den Kirchengang im Hochzeitskleid ihrer Mutter herunterkam. Ich fühlte es eines Nachts in einem Pub namens »An Spailpeen Fanach« in Kork in Irland, als ich eine junge Frau ein Lied von Hungersnot und Auswanderung auf Gälisch singen hörte, und jeder dort die Wörter leise mitsang. Und ich habe es gefühlt, als ich in den Spiegel sah, und zu meinem Schock und Erstaunen sah, wie mich eine Frau anschaute.

Für die meisten Menschen geraten die Formen der Gnade im Leben nicht aneinander oder leben miteinander im Konflikt . Für Transsexuelle jedoch gibt es diese lebenslange Klage, dass eines der Dinge, die uns am meisten dazu bringt, uns mit der Welt im Frieden zu fühlen, genau das ist, das der Welt nicht ganz geheuer ist. Welchen Sinn diese lächerliche und herzzerreißende Zwangslage für uns hat, erzählt die Geschichte unseres Lebens oder zumindest eines Teils davon.

Für einige bedeutet die Suche nach der Gnade, die breitgetretene Straße von Therapie, Hormonen, Wechsel der Freundschaften und des Lebens entlang zu gehen. Für andere die Furcht – die Gewissheit –, dass wir im Wechsel viele der Dinge verlieren würden, die uns am meisten bedeuten und die uns am meisten Gnade geben – und dies hält uns davon ab, diese Straße zu gehen. Viele sind der Ansicht, dass uns das Erreichen der Übereinstimmung von Geist und Körper für immer von unseren Kindern, unseren Geliebten, unseren Berufen trennen würde – und die Vorstellung von einem Leben ohne diese Dinge ist genauso, wie an ein Leben ohne Gnade zu denken.

Welchen Sinn hat das alles für uns? Für viele TGs bestimmt das unlösbare Rätsel unseres Lebens das Privatleben. Wir fühlen uns allein, missverstanden, verachtet. Wir sind wütend auf ein Universum, das uns – in jedem Augenblick – Gottes Gesicht zu zeigen scheint. Und doch bringt uns dieser flüchtige Eindruck, der so schwer fassbar und so schwierig zu erreichen ist, dazu, dass wir uns fragen, ob wir nicht besser daran wären, wenn wir gar nichts darüber wüssten. Die meisten von uns wünschen sich dennoch manchmal verzweifelt, dass wir diese Ahnung für immer wegschließen könnten, so dass wir von ihr nicht mehr verfolgt werden können, und von der Unmöglichkeit, sie jemals zu verwirklichen.

Ich habe nie einen Transsexuellen getroffen, der nicht auf irgendeine Weise spirituell war. Ich denke, die Komplexität dieser Reise verlangt von uns, dass wir über uns hinausschauen. Und doch, wir fragen uns: Was hätte Gott möglicherweise denken können? Was ist es, was Du von uns willst? Willst Du, dass wir den Mut finden, unsere heiligsten Wünsche beiseite zu legen, unsere wertvollsten Sehnsüchte aufzugeben, so dass wir ein selbstloses, anderen gewidmetes Leben führen können? Oder willst Du, dass wir den Mut finden, die bemerkenswertesten Dinge zu tun, eine so überraschende und ungewöhnliche Verwandlung zu erleben, so dass diese Verwandlung einige Leute veranlasst, liebevoller, verständnisvoller und geduldiger mit den seltsamen Dingen der Welt umzugehen?

Ich habe in der Kirche so ziemlich niemals eine Antwort auf die meisten Fragen gefunden, die mein Leben beherrscht haben. Vielleicht, weil die Fragen, die ich habe – über Geschlecht und Identität – nicht die sind, die in den meisten religiösen Denksystemen eine besonders zentrale Rolle spielen. Mir ist das Gesicht Gottes immer in den Gesichtern anderer Menschen erschienen. Im Gesicht meiner Frau, während sie schläft. In den Gesichtern meiner Kinder, wenn sie ein Buch lesen. Im Gesicht meiner Mutter, wenn sie die Orchideen ansieht, die sie einmal mit meinem Vater gezüchtet hat, der nun seit fünfzehn Jahren nicht mehr da ist.

Und so fragen wir uns: wenn ich eine Frau werde, werde ich ich diese Gesichter verlieren? Werde ich diese Ahnung der Unendlichkeit verlieren? Werde ich »gnaden-los«?

Ich denke, deswegen finden viele von uns, dass die zwingendsten Frage im Wechsel nicht die ist, wie man das neue Geschlecht »wird«. Wenn du deine Hausaufgaben machst, ist der Prozess, durch den du gehen musst, bis jetzt ziemlich klar. Was wir am verwirrendsten finden, ist jedoch die Frage, was wir im neuen Geschlecht verlieren oder behalten werden. Verlieren wir unsere Verbindungen zu unseren Kindern, unseren Geliebten und unseren Karrieren? Was für Menschen werden wir dann sein?

Shakespeare schrieb vom Mann, der »die ganze Welt gewinnt und seine Seele verliert«. Für Transsexuelle gilt oft das Gegenteil – dass wir nach dem Wechsel unsere Seele gewinnen und die Welt verlieren könnten. Das hat nicht viel von einer Verbesserung.

Ich kenne eine Menge Transsexuelle, die sagen, »Die Welt kann mich mal. Ich bin, was ich bin, und wenn es die Welt nicht mag, kann mich die Welt am Arsch lecken«. Ich verstehe dieses Empfinden. Aber ich ich will doch am Ende auch keine Transgender-»Unabomber«-Frau werden, mich in Hütten verkriechen und Manifeste darüber schreiben, dass mich die Welt nicht versteht.

Wenn wir uns also für diese Reise einschiffen – wie viele von uns fühlen deutlich, dass wir das müssen, und sehr wie fühle ich, dass ich das muss – wie stellen wir sicher, dass wir die Welt bewahren, dass wir nicht all die anderen Dinge verlieren, die uns Gnade bringen?

Leider gibt es keine Garantie. Darum sind wir alle in Therapie!

Aber es gibt einige Dinge, die wir tun können. Ich glaube, um mit der Welt verbunden zu bleiben, ist es am wichtigsten, unseren Wechsel so sehr wie möglich zu einem Teil des Lebens unserer geliebten Menschen zu machen. Auch dies ist schwer, es ist herzzerreißend. Aber ich denke, wir müssen aufrichtig zu unseren geliebten Menschen sein, sie wissen lassen, was wir fühlen. Und wir müssen unsere Schritte hinaus in die Welt allmählich und sanft als Teil eines Prozesses vollführen, den wir mit den Menschen teilen, die Gnade in unser Leben bringen.

Ich schreibe hier über etwas, das ich oft selbst versäumt habe. Ich denke, dass ist normal oder jedenfalls üblich, was auf dasselbe herauskommt. Transgender leben nur in ihren Köpfen; wir behalten einen riesigen Teil unserer wertvollsten Empfindungen für uns. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, unser persönliches Empfinden frei zu lassen, um es mit anderen zu teilen – und sogar zu hören, dass andere es nicht teilen wollen. Wenn wir das aber nicht tun, werden wir die Dinge, die uns am meisten erleuchten, ganz bestimmt verlieren.

Ich versuche, die Art und Weise zu ändern, wie ich über mein Transgender-Sein denke. Ich versuche, es zu etwas Konstantem zu machen, etwas, das offensichtlich und an der Oberfläche ist, und nicht etwas, das ich verstecke. Ich versuche, ein besserer Zuhörer zu sein. Ich versuche, mein sich entwickelndes weibliches Leben nicht so zu führen, wie ich es mir vorstelle, nicht so wie ich es mir immer gewünscht habe, sondern so, wie es tatsächlich ist, in diesem Augenblick auf diesem Planeten. Es ist eine Herausforderung. Frau zu werden ist leicht. Eine Frau zu werden, die mit all den Leuten verbunden ist, die ich am meisten schätze – dies ist sehr schwer.

Das zu erreichen braucht Mut und Tapferkeit – manchmal mehr, als ich glaube zu haben. Das Gute daran, wenn wir die unsere Last mit unseren geliebten Menschen teilen, ist, dass wir das Gewicht nicht allein tragen müssen.

Am letzten Tag des Jahres 2000 stand ich an den Ufern des Lake Marie in New Hampshire. Einige Freunde waren auf einer Silvesterparty, um das Millennium zu feiern, und unsere lokale Feuerwehr veranstaltete ein Feuerwerk. Die Feuerwerk sah lachhaft und klein aus. Die meisten Erwachsenen, die sich zum Zuschauen am eingefrorenen See versammelt hatten, gingen völlig unbeeindruckt nach einem oder zwei Momenten hinein.

Meine fünf Jahre alte Tochter aber stand erstaunt am vereisten Ufer. Ich gin zu ihr und nahm ihre Hand, und in diesem Augenblick sah ich das Feuerwerk so wie sie – nicht als ein kleines Stadtereignis, lächerlicher Käse. Sondern als das wundervollste Ereignis im Universum. Ich hob sie hoch und hielt sie in die eiskalte Winterluft. Wir sahen dem Feuerwerk über dem See zu, wie es den Nachthimmel grün und blau und orange erscheinen ließ. Dann wandte sie sich zu mir um und lächelte. Ihr Atem dampfte. Ihr Gesicht strahlte hell, genauso wie das ihrer Mutter zur Hochzeit, genauso wie die Sonne am nächsten Morgen strahlen würde, wenn sie über einem neuen Jahrhundert aufgeht.

»Ich will, dass es immer so weiter geht«, sagte sie.


Veröffentlicht auf GenderWunderLand mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Besuche ihre Webseiten http://www.colby.edu/personal/j/jfboylan/ und http://shesnottherebook.com.

Das Urheberrecht für die Übersetzung liegt bei Laura. Der englische Artikel stammt von http://members.aol.com/gnlnews/forever.html.

Seite angelegt am 18.01.2004, zuletzt geändert am 23.11.2006.