Christentum und Transidentität

von Freya, 1999.

Die Heilige Schrift

Vorwort

Eigentlich habe ich nur nach einem Artikel gesucht, der sich mit dem Verhältnis zwischen christlichem Glauben und »Transgender, Transidentität, Crossdressing, Transvestitismus und/oder Transsexualität« auseinandersetzt. Bisher habe ich ihn nicht gefunden. Deshalb habe ich beschlossen, ihn selbst zu schreiben. Statt christlicher Glaube und Transidentität hätte ich ihn auch christlicher Glaube und Transgender oder Crossdressing, Transvestitismus und Transsexualität überschreiben können. Ich denke, die Unterschiede zwischen transsexuellen Menschen und denen, die nur zeitweise weibliche Kleidung tragen, sind für dieses Thema nicht so erheblich, dass ich darauf extra eingehen müsste.

Worum geht es? Es geht mir in diesem Artikel zum einen um Christentum und Transidentität – »wie passt das zusammen?«, zum anderen um die Klärung des eigenen Glaubens.

Natürlich sind die von mir aufgeführten Erkenntnisse und Einsichten nicht neu. In allen Fragen stütze ich mich auf gängige theologische Meinungen und Positionen. Deshalb und weil ich wollte, dass meine kleine Abhandlung lesbar bleibt, habe ich in den meisten Fällen auf Quellenangaben verzichtet. Ich bin aber gerne bereit, diese auf Anfrage nachzureichen. Exotische Positionen habe ich nicht erwähnt.

Es ist keine philosophische oder theologische Abhandlung über Gott, Bibel und christliche Dogmatik. Dieser kleine Artikel ist nur als Hilfe gemeint für alle, denen es schwer fällt, Transidentität (Transgender, Crossdressing, Transvestitismus und/oder Transsexualität usw.) und den (ihren) christlichen Glauben zusammen zu denken und zusammen zu bringen.

1. Ein christliches Problem

Es gibt wirklich genug Probleme für Menschen, die ihre Identität nur dann finden, wenn sie zeitweise oder ausschließlich in einer anderen Geschlechterrolle leben. Ich weiß das. Ehe eine/einer ihre/seine Transidentität für sich akzeptieren kann, dauert es, und es ist mit vielen Fragen und Selbstzweifeln verbunden. Ganz zu schweigen davon, welche Probleme sich häufig im Verhältnis zu den Menschen auftürmen, auf die wir in unserem Leben angewiesen sind, die wir schätzen oder lieben.

Menschen, die sich als Christinnen und Christen verstehen, versuchen ihr Leben aus ihrem christlichen Glauben und Selbstverständnis heraus zu leben. Sie haben neben allen anderen Problemen ein spezielles: Wie verträgt sich meine Identität mit meinem Glauben? Hat nicht Gott die Menschen als Mann und Frau geschaffen? Dürfen Frauen Männerkleider tragen und Männer Frauenkleider? Wie steht es mit der Moral, und wie komme ich mit meinen Glauben zurecht? Was sagt die Bibel zu meiner Art und was sagt die Kirche? Ist es nicht Sünde bzw. Schuld, wenn ich dieses Leben auf der anderen Seite meines angeborenen Geschlechts lebe? Welche Chancen habe ich, beides zu leben?

2. Schöpfung – entweder Mann oder Frau oder?

Keine/Keiner wird bezweifeln, dass in jeder der biblischen Schöpfungsgeschichten ganz klar zum Ausdruck kommt, dass die Menschen in zwei Geschlechter eingeteilt sind: Männer und Frauen. Ansonsten finden sich in den beiden Schöpfungsgeschichten im Buch Genesis viele Unterschiede. Es finden sich auch in anderen Büchern der Bibel mehr und andere Aussagen über Gott und den Anfang der Welt. Am bekanntesten sind aber die zwei Schöpfungsgeschichten (1. Mose 1,1–2,4a und 1. Mose 2,4b–24) ganz am Anfang der Bibel. Es ist common sense der theologischen Forschung, dass im Zuge einer Harmonisierung im 5. Jh. vor Christus in den ersten beiden Kapitel zwei Schöpfungsgeschichten zusammengeschrieben wurden, zwei Geschichten, die aus unterschiedlichen Zeiten stammen und mit unterschiedlichen Zielen verfasst wurden.

Ich schreibe übrigens Schöpfungsgeschichten und nicht Schöpfungsberichte, weil dieser Begriff ihnen nicht gerecht wird. Sie versuchen, das naturkundliche Wissen ihrer Zeit und ihren Glauben an Gott miteinander zu verbinden, sie berichten nicht von der Schöpfung. Die eine Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,4b–24) geht auf die Völker Palästinas zurück, die sich gerade im Umbruch von der Nomadenkultur zur Ackerkultur befanden. Neben vielen anderen Unterschieden zur vorhergehenden Erzählung ist die Stellung der Frau/man gegenüber der des Mannes viel geringer. Sie ist nach Aussage der Nomaden, die ca. um 1300 v.Chr. in Palästina lebten, nur Gehilfin aus der Rippe des Mannes und Gebärmaschine. (Das erklärt sich natürlich aus den Bedürfnissen dieser Gesellschaft, ist deshalb trotzdem schwachsinnig!)

Dagegen war die erste Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1,1–2,4a), die zeitlich viel später verfasst wurde (ca. 600 v. Chr. im Exil in Babylon), ihrer Zeit weit voraus. Männer und Frauen sind nach dem Bild Gottes geschaffen. Männer und Frauen sind gleichgestellt (jedenfalls in der Theorie). »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.« (1. Mose 1,27).

Es ist sicherlich nicht zuviel in diesen Vers hineininterpretiert, dass Gott nur so vermenschlicht werden konnte, indem er zwei Geschlechter schuf, beide also je einen Aspekt Gottes widerspiegeln. Nur ein Geschlecht zu schaffen, wäre ihm selbst nicht gerecht geworden. Zwei Aufgaben sind beiden Geschlechtern, den Menschen, durch Gott vorgegeben: die Erde und die Schöpfung zu bewahren und sich zu vermehren.

Darüber hinaus wird in dieser Schöpfungsgeschichte nichts gesagt über die Rollen von Mann und Frau. Die Rollen von Mann und Frau haben sich natürlich mit den geschichtlichen Situationen und den gesellschaftlichen Gegebenheiten verändert. Das spiegelt sich auch in den verschieden Büchern der Bibel wieder.

In den Schöpfungsgeschichten verbinden Menschen ihr Weltbild, ihre Sicht der Dinge, mit ihrem Glauben an Gott. Sie tun das, um sich von den anderen Schöpfungsmythen der sie umgebenden Religionen abzusetzen. Sie sind Produkte ihrer Zeit und sagen nichts aus darüber, wie Männer und Frauen sich heute zu verhalten haben, wie sie sich zu kleiden haben oder woran man männliches oder weibliches Verhalten erkennt. Obwohl das natürlich für die Menschen in diesen Jahrhunderten völlig klar war. Das Problem der Transidentität (Transgender, Crossdressing, Transvestitismus und/oder Transsexualität usw.) taucht in der Bibel nicht auf, die Frage ob Männer Frauenkleidung tragen dürfen, schon (siehe Kapitel 4).

3. Über Gott

Ein kluger und viel gelesener evangelischer Theologe des 20. Jahrhunderts hat etwas Wahres über Gott gesagt: »Gott ist immer die ganz andere.« (Kleine Korrektur: Er (Karl Barth) hat natürlich gesagt: Gott ist immer »der« ganz andere.)

Damit hat er deutlich gemacht, dass sich Gott von allem, das wir als Lebenserfahrung gerne auf unseren Glauben übertragen wollen, unterscheidet. Und dadurch, dass er von Gott nur in männlicher Sprache reden konnte, hat er deutlich gemacht, dass auch er in seiner Vorstellung über Gott gefangen war. Es ist klar, wir versuchen ständig, unsere Vorstellungen, Wünsche und Lebenserfahrungen auf Gott zu projizieren. Das geschieht auch mit allen Eigenschaften, die wir als männlich oder weiblich beschreiben. Dass Gott nicht nur männlich (sondern auch weiblich) ist, hat vor ca. 20 Jahren die feministische Theologie erkannt, als sie formulierte: »Als Gott den Mann schuf, übte sie nur.« Eine Anekdote aus den 60er Jahren geht in die gleiche Richtung. »Als der erste Kosmonaut vom Papst empfangen wird, fragt der ihn: Sie waren doch da oben und haben ihn gesehen. Wie ist denn Gott? Der Kosmonaut antwortet: Sie ist schwarz!«

Gott lässt sich mit unseren »männlich-weiblich« Beschreibungen nicht beschreiben. Sie/Er ist immer ganz anders, als wir es uns in unserer Geschlechterfixiertheit vorstellen. Davon wussten schon die alten Israeliten, als sie Gott auch sogenannte weibliche Eigenschaften zubilligten: »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; …« (Jesaja 66:13)

Wenn wir uns über Gott unterhalten, merken wir schnell, jede und jeder von uns hat ihr/sein eigenes Gottesbild, und das ist gut so. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Gott unbeschreibbar ist, ja Gott sozusagen der Name für das Unbeschreibbare und Unbegreifliche ist. Dabei ist SIE/ER für Menschen nicht im Abstrakten zu erfassen, sondern nur in ihrer Beziehung und ihrem Verhältnis zur Welt, zu den Menschen und zu uns. SIE/ER hat Mose sich mit den Worten offenbart: »Ich werde sein, der ich sein werde.« – oder besser übersetzt: »Ich werde für dich sein, wie ich für dich sein werde.« Abstrakt über Gott zu diskutieren macht zwar Spaß und befriedigt die intellektuellen Ambitionen, aber Gott kann frau/man nur in einer personalen Beziehung erfahren.

Es ist jedenfalls interessant, dass selbst in der patriarchalischen Gesellschaft des alten Israel Gott nicht nur männliche, sondern auch frauliche Wesenszüge zugeschrieben werden. Schon damals wussten, glaubten oder ahnten die Menschen, dass Gott nicht nur männlich ist. SIE/ER ist aber auch nicht geschlechtslos. Vielleicht ist in ihm das weibliche und das männliche Element auf eine höchst erotische Art vereint. Gott ist immer für eine Überraschung gut!

Ich bevorzuge deshalb die erste (jüngere) Schöpfungsgeschichte, weil dahinter kein männliches, sondern ein androgynes Gottesbild steckt. Da Gott die Menschen zu ihrem/seinem Bilde schuf, ist die Verwirklichung dieses Menschenbildes ein Ziel der/des Glaubenden!

4. Zur Kleiderfrage in der Bibel und mehr …

Auch wenn in der Bibel Transidentität (Transgender, Crossdressing, Transvestitismus und/oder Transsexualität usw.) nicht thematisiert wird, macht es eine Christin / einen Christen doch nachdenklich, wenn sie/er in im 5. Buch Mose (22,4) liest: »Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem HERRN, deinem Gott, ein Greuel.« Das ist die einzige Stelle, bei der man einen Bezug zur Transidentität vermuten könnte. Und es scheint schon eine starke Ablehnung gegen das Kleidertragen des anderen Geschlechts darin zum Ausdruck zu kommen.

Wahrscheinlich werden Transsexuelle diese Stelle nicht auf sich beziehen, tragen sie doch nicht die Kleidung des anderen Geschlechts, sondern die ihres ureigenen, wenn es auch nicht unbedingt den körperlichem Aussehen entspricht. Crossdresser usw. werden dafür um so eher beim Lesen dieses Textes nachdenklich.

Nebenbei bemerkt gibt es auch einige Bibelstellen, die sich negativ über Homosexualität auslassen. Das ist allerdings wieder eine andere Thematik, die in diesem Rahmen, denke ich, nicht von Belang ist. (Vielleicht wäre für dieses Thema aber auch Kapitel 9 hilfreich.)

Nun zurück zu Deuteronomium 22,4, wie also ist diese Stelle zu verstehen?

Es ist sicher nicht verkehrt, sich das einmal im Zusammenhang anzusehen:

Die Verse 4 bis 6 lauten: »Wenn du deines Bruders Esel oder Rind unterwegs fallen siehst, so sollst du dich ihrer annehmen und ihnen aufhelfen. Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem HERRN, deinem Gott, ein Greuel. Wenn du unterwegs ein Vogelnest findest auf einem Baum oder auf der Erde mit Jungen oder mit Eiern und die Mutter sitzt auf den Jungen oder auf den Eiern, so sollst du nicht die Mutter mit den Jungen nehmen.«

Und wer auch den Rest noch nachliest, wird ihren/seinen ersten Eindruck bestätigt bekommen, dass der Vers völlig zusammenhanglos dasteht! Es scheint also sehr zufällig, dass zu diesem Thema hier etwas steht. Wahrscheinlicher, als eine biblische Antwort auf das Phänomen ist, dass das Problem nicht thematisiert wurde. Transidentität (Transgender, Crossdressing, Transvestitismus und/oder Transsexualität usw.) hat wohl wenig mit Eseln, Rindern oder Vogeljungen zu tun (oder doch?). Allerdings findet sich dieser Vers sogar in den ältesten uns erhaltenen Handschriften, was im AT allerdings nicht viel besagen will, da wir über keine echten alten Handschriften aus dieser Zeit oder kurz danach verfügen.

Wer ernsthaft über diesen Vers diskutieren will, sollte auch über den Vers 12 reden, in dem es heißt: »Du sollst dir Quasten machen an den vier Zipfeln deines Mantels, mit dem du dich bedeckst.« Das sind Texte, die sich nur aus der damaligen Zeit erklären lassen und keinen Anspruch auf Autorität haben.

Das Deuteronomium, in dem diese Verse stehen, stammt von anderen Verfassern als die ersten Bücher Mose. Es war zur Zeit des Königs Josias (7. Jh. v. Chr.) die Grundlage für bedeutende politische und religiöse Reformen. Historiker vermuten, dass eine ältere Schrift angepasst und benutzt wurde, um genau die Politik des Königs zu legitimieren. Von dieser Kleiderordnung ist aber in den parallelen Geschichtsbüchern der Könige und der prophetischen Schriften nirgends die Rede. Es wird sich also um eine Randnotiz in einem Manuskript handeln, die ein übereifrigen Abschreiber dem Originaltext hinzugefügt hat.

Trotzdem wird in christlichen Kreisen viel spekuliert über den tieferen Sinn dieses Verses. Neben der oben genannten Antwort wird gesagt:

  1. Es geht darum, dass Männer nicht in Frauenkleidern Zugang zum Harem finden, um dort mit fremden Frauen zu schlafen,
  2. dass sich fromme Israeliten nicht an Kulten beteiligen, in denen Frauen oder Männer als Tempeldiener/innen fremder Göttinnen agieren,
  3. Ablehnung von Tempelprostitution und Kastrationsritualen, die es damals in anderen Religionen gab.

Mehr als diese drei sehr spekulativen Antworten habe ich in der Literatur nicht gefunden.

Mit Erstaunen habe ich festgestellt, dass es auch heutzutage christliche Gemeinschaften gibt, die auf Grund dieser Bibelstelle ihren Frauen das Tragen von Hosen verbieten. Natürlich besteht die Frage, was Männerkleidung und was Frauenkleidung ist. Das war in der patriarchalischen Gesellschaft Israels wohl noch eindeutiger, in unserer Gesellschaft ist es relativ. Wir wissen, wie feminin frau in Hosen aussehen kann, und wir haben alle schon einmal die behaarten Männerbeine unter Schottenröcken hervorgucken gesehen. Ein Kleidungsstück lässt sich nicht als eindeutig männlich oder weiblich identifizieren.

Unsere Zeiten heute sind andere als die Zeiten damals. Deshalb will ich nicht bestreiten, dass die Verfasser dieses Verses damals ein berechtigtes Anliegen hatten, das aber nicht zeitlos und ewig ist, sondern aus der damaligen Situation heraus entstanden war. Die Bibel ist kein zeitloses Buch, sondern eine Sammlung von Schriften, die aus der Zeit und von den Menschen der Zeit geschrieben wurde für die Menschen, die in ihrer Zeit leben.

5. Über die Bibel

Nun also doch einige kurze Sätze über die Bibel.

Natürlich ist sie nicht vom Himmel gefallen, natürlich ist sie nicht von IHR/IHM in die Feder einzelner Menschen diktiert worden, und natürlich ist die Bibel von Männern geschrieben worden.

Das waren Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen mit ihrem Glauben und mit Gott gemacht hatten. Sie waren Männer ihrer Zeit, gefangen in Notwendigkeiten, Bedürfnissen, Urteilen und Vorurteilen, nicht anders als wir Menschen heutzutage. Aus unterschiedlichsten Gründen war es ihnen wichtig, ihre Glaubenserfahrungen und ihre Gedanken über Gott aufzuschreiben. Manche taten es, damit andere aus ihren Erfahrungen lernen konnten, andere, um sich im theologischen Streit zu behaupten, wieder andere aus (macht)politischen Interessen. Weil sich die Zeiten und die Interessen geändert hatten, sind viele dieser Schriften in den nachfolgenden Jahrhunderten häufig mehrmals überarbeitet worden, wie man belegen kann. Diese Überarbeitungen erfolgten auch aus dem Bedürfnis heraus, die alten Texte aktuell zu halten.

Trotz dieser sehr menschlichen Entstehungsgeschichte sind diese alten Papier gewordenen Glaubenserfahrungen der Israeliten und Christen, der Mütter und Väter zur Richtschnur späterer Glaubenserfahrungen und unseres Glaubens geworden.

Natürlich können wir den Lebens- und Glaubenserfahrungen dieser Menschen nur gerecht werden, wenn wir sie aus ihrer Lebenswirklichkeit heraus wahrnehmen und interpretieren. So werden ihre Schriften Grundlage des Glaubens, nicht als unveränderliches Wort Gottes, sondern als immer neues Wort Gottes und Hilfe für Frauen und Männer. Die Bibel ist nicht das in Lettern geschriebene Wort Gottes, aber das Wort Gottes für jede und jeden von uns ist darin zu finden.

Gott schenkt Menschen die Freiheit, eigene Erfahrungen zu machen, die durchaus von den Erfahrungen der Mütter und Väter des Glaubens abweichen können. Die Bibel ist ein offenes Buch, sie verlangt weder sinnlosen Glauben noch Kadavergehorsam. Die Bibel weist über sich selbst und über ihre Verfasser hinaus.

Deshalb findet sich auch Hilfe und Rat, Ermutigung und Hoffnung für Menschen aller Völker, die mit keinem Wort in den biblische Schriften erwähnt sind. Ihre gute Botschaft schließt auch uns mit ein, Transsexuelle, Transvestiten, Trannies, Crosdresser, auch wenn wir nicht ausdrücklich genannt sind. Sie ist offen für alle, die auf der Suche nach sich selbst, nach Gott, nach dem Sinn oder dem Ziel ihres Lebens sind. Am eindrücklichsten wird das meiner Meinung nach in den Geschichten und Reden, die uns von Jesus überliefert sind.

6. Jesus, der Mann

Auch Jesus hat nichts über Transsexuelle, Transvestiten, Trannies, Crosdresser usw. gesagt. Wie sollte er auch? In den wenigen uns erhaltenen schriftlichen Quellen der damaligen Zeit kommt dieses Thema, wie auch viele andere uns heute interessierende Themen nicht vor. Es ist anzunehmen, dass dafür in der stark patriarchalisch geprägten und religiös überhöhten Gesellschaft Palästinas kein Raum war und keine Rolle spielte, nicht einmal eine kleine Nebenrolle. Jesus selbst fasziniert mich dennoch, weil er in seiner Zeit seiner Zeit um Jahrtausende voraus war. Er war ein Sohn seiner Zeit, aufgewachsen in einem Kaff namens Nazareth, in dem einige der 200 Einwohner noch in Höhlen wohnten. Und doch lässt er sich nicht nur aus seiner Zeit heraus erklären.

Viele Dinge an seinem Auftreten waren nicht neu. Es gab schon vor ihm Menschen, die Krankheiten geheilt haben, es gab Prediger und Rabbiner, die die Gebote auf ähnliche Weise ausgelegt hatten, es gab Propheten, die wie er den Anbruch des Reichs Gottes verkündeten. Weder das Heilen von Krankheiten noch das Austreiben von Dämonen noch die Auslegung der Gebote oder die Erwartung des kommenden Gottesreiches war das Neue, das mit Jesus in die Welt kam.

Neu an ihm war sein Umgang mit Menschen, die von der Gesellschaft als Sünder gebrandmarkt worden waren und deshalb an den Rand gedrängt wurden. Ich persönlich verabscheue das Wort Sünder genauso wie den Begriff Sünde, haben doch die Kirchen damit Jahrhunderte lang Schindluder getrieben und diese Begriffe zur eigenen Machterhaltung missbraucht. In diesem Zusammenhang allerdings muss ich ihn benutzen, nicht ohne ihn als Begriff des damaligen Judentums (also nicht der Zeit der Kirche) zu begreifen.

Sünder waren damals alle Menschen, die nicht gottesdienstfähig waren, d.h. die nicht in den Tempel durften und mit denen man deshalb bei den Mahlzeiten nicht an einem Tisch sitzen und die Tischgebete sprechen durfte. Dazu gehörten zur Zeit Jesu so verschiedene Gruppen von Menschen wie Knoblauchverkäufer (wegen des Gestanks), Zöllner (Leute die mit der römischen, heidnischen Besatzungsmacht zusammenarbeiteten) und Kranke (Krankheit wurde als Folge eines sündhaften Fehlverhaltens verstanden). Nicht gottesdienstfähig waren ebenso alle Frauen, die deshalb nicht in das Innere des Tempels durften und nicht an den Mahlzeiten, die immer auch religiösen und gesellschaftlichen Charakter hatten, teilnehmen durften.

Die Diskriminierung von Menschen wurde damals religiös überhöht und von den Herrschenden als Wille Gottes dargestellte. Das hat seine Folgen und Parallelen bis heute.

Neu an Jesus und für die damalige Zeit einmalig war sein Verhalten gegenüber Frauen. Er hat sie nicht nur an den Mahlzeiten teilnehmen lassen, er hatte als erster Rabbi auch einen Kreis von Jüngerinnen (Schülerinnen), die mit ihm genauso wie die Jünger durch die Lande zogen. Maria aus Magdala hatte in der Gruppe der Jüngerinnen eine vergleichbare Stellung wie Petrus bei den Jüngern.

Einmalig an Jesus – nicht nur für die damalige Zeit – war, dass er die Lebenswirklichkeit der Frauen wahr- und ernstgenommen hat. Es gab damals einige Wanderprediger, die Gleichnisse erzählten, die ihre Motive aus der Männerwelt entnahmen. Jesus hat als einziger Gleichnisse nicht nur über das Reich Gottes erzählt, sondern er hat dabei auch häufig Alltäglichkeiten aus dem Leben der Frauen aufgegriffen. Er heilte Frauen und hat die bittende Witwe ebenso wahrgenommen, wie er in der Frau, die den Groschen sucht, ein Abbild der Liebe Gottes findet.

Das erlaubt zwei Schlüsse:

  1. Auch diskriminierte Gruppen (das waren Frauen damals) und Minderheiten haben ihren Platz im Reich Gottes.
  2. Jesus kennt keine Abstufung zwischen Männern und Frauen.

Für Transsexuelle, Transvestiten, Trannies, Crosdresser usw. ist es wichtig, dass sich Jesus ebenfalls für uns stark gemacht hätte, falls er diese Thematik gekannt hätte.

Jesus hat unter den Menschen in völliger Offenheit und Vorurteilslosigkeit gelebt; niemanden, auch nicht den Schuldigen und Unleidlichen und Fremden hat er verachtet, keinen hat er allein gelassen, und wer immer Hilfe suchte oder einen Partner, auf den Verlass war – in Jesus hat er ihn gefunden. Jeden hat er gelten lassen in seiner Art und Unart, jedem hat zur Entfaltung seiner Möglichkeiten und Hoffnungen verholfen. Jesus hat nicht für sich selbst gelebt. Er lebte, damit andere ihre Chancen und Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten und Eigenarten entdecken und leben konnten.

Natürlich hätte er sich auch für Transsexuelle, Transvestiten, Trannies, Crosdresser usw. stark gemacht und vielleicht folgendes Gleichnis erzählt: »Es war ein Mensch, der machte ein großes Fest und lud viele dazu ein und kaufte sich dafür das schönste Kleid, das er finden konnte. Und als die Geladenen zum Fest kamen und sahen ihn in seinem Kleid, mit seinem schönsten Schmuck, entsetzen sie sich und fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau/man genommen; darum muss ich wieder gehen. Und sie drehten sich um und gingen aus dem Haus. Da wurde der Hausherr in seinem wunderhübschen Kleid so zornig, dass man die Röte sogar unter dem Make up sehen konnte und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich sage euch, dass keiner der Leute, die eingeladen waren, an meinem Fest mitfeiern darf.« (vgl. Lukas 14,16–24)

7. Und die Moral?

Genau das hat man Jesus vorgeworfen, dass er mit seiner Art zu leben die Moral und den Glauben untergräbt. Das konnten sie damals genauso wenig aushalten wie heute, und deshalb haben sie ihn aufs Kreuz gelegt.

Leider haben sich die Christen dann auch viel zu schnell angepasst und angemaßt zu sagen, was moralisch und christlich ist und was nicht. Das lässt sich schon beim Apostel Paulus nachlesen und findet in den anderen Briefen des Neuen Testaments seine Fortsetzung. Auf der einen Seite wurden von den ersten Christen unreflektiert die moralischen Richtlinien einiger griechischer stoischer Gruppierungen in den Tugend- und Lasterkatalogen und der sogenannten Haustafeln übernommen, auf der andern Seite wurde alles, was nur den Anschein von Liberalität hatte, als Götzendienst verdammt. (Es war übrigens in Griechenland und der Antike nicht ungewöhnlich, dass Männer Frauenkleider trugen und umgekehrt. Es gab Tempelkulte, in denen das der Fall war. Homosexualität, zumindest unter Männern, war etwas Normales.)

Nicht nur wegen der einmaligen Botschaft, sondern auch durch die Anpassung an gesellschaftliche Normen hat sich das Christentum so schnell im Römischen Reich ausgebreitet und wurde zur mächtigsten Religion im alten Rom.

Dabei lernen wir von Jesus, dass Glaube nichts mit Moral, aber alles mit Menschlichkeit, Toleranz und Gerechtigkeit zu tun hat.

Wie verlogen die heutige Diskussion der Kirche über Moral ist, will ich an einem Beispiel festmachen. Alle kennen das 6. Gebot: »Du sollst nicht ehebrechen.« Die Kirchen wenden es an, um die heilige Ordnung der monogamen Ehe zu begründen. Das ist völliger Quatsch! Als dieses Gebot unter den Nomadenvölkern Israels entstand, wusste keiner, was eine monogame Ehe überhaupt ist. So war ein Mann durch das Gesetz gezwungen, falls sein Bruder ohne Kinder stirbt, mit seiner Schwägerin so lange zu schlafen, bis sie schwanger wird, damit sein verstorbenen Bruder doch noch zu einem Erben kommt.

Auch die Väter Israels, wie Abraham und Isaak, hatten ihre Haupt- und Nebenfrauen und von ihnen viele Kinder. Über den von Gott gesegneten König Salomo wird geschrieben, dass er mit seinen 700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen (1.Kön 11,3) lebte und als »potenter« Herrscher und großer Liebender galt.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es keine notwendigen Lebensformen gibt. Was heute Unmoral genannt wird, war gestern Moral. Moral ändert sich mit der Zeit, genauso wie sich die Kultur ändert. Ich mache das an zwei großen Theologen des 20. Jahrhunderts fest, an Karl Barth und Paul Tillich. Von Karl Barth wissen wir, dass er 30 Jahre in einer Dreierbeziehung lebte. Zu seiner Zeit ein Verhalten, für das keiner Verständnis hatte. Hätte er das zur Zeit des AT, zur Zeit Abrahams oder Moses, getan, wäre es ganz normal gewesen. Der Thelogieprofessor Paul Tillich, ein verheirateter Mann, ging mit vielen fremden Frauen (meist Studentinnen) ins Bett. Zur Zeit Jesu wäre das kein Problem gewesen, solange die Frauen nicht verheiratet waren.

Das beweist, dass christlicher Glaube und christliches Leben wenig mit Moral zu tun hat – aber viel mit Ethik!

8. Ethik

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Moral und Ethik. Die Moral ist von der jeweiligen Zeit, Gesellschaft und Kultur abhängig und passt sich der herrschen Meinung an. Die Ethik ist eine Grundeinstellung des Menschen, die nicht so leicht zu ändern ist. Jesus brachte keine neue Moral, erst recht keine »christliche Moral«, – er war ja gar kein Christ! – in die Welt. Er brachte aber eine neue Grundeinstellung der Menschen zu Gott, der Welt und den Mitmenschen. Dabei war er natürlich auch teilweise gefangen in den Moralvorstellungen seiner Zeit, aber seine Grundeinstellung hat Zukunft.

Wer schon einmal in die Evangelien hineingeschaut hat, wird mich verstehen.

Wer sein Leben also von dieser Grundeinstellung und dem Glauben Jesu her angeht, kann die moralischen Werte und die Moral unserer Gesellschaft nicht ungefragt übernehmen.

Nun wollen wir gerade erreichen, dass andere uns so akzeptieren, wie wir sind. Damit sind wir nicht die einzigen. Auch andere Minderheiten wollen von der Gesellschaft akzeptiert werden. Wenn wir über die anderen, die uns nicht so akzeptieren wollen, wie wir sind, reden, dann fängt häufig das Lamentieren an, über die Ungerechtigkeit der Welt und dass alles viel besser werden müsste und wie blöd, uneinsichtig, verbohrt, konservativ, machohaft usw. die anderen sind.

Ein bisschen anders war das schon, was Jesus gesagt und gemeint hat. Er hat nie gesagt, »beklagt euch über die Ungerechtigkeit, die euch widerfährt«, sondern »nehmt die andern Menschen an, wie ihr auch von Gott angenommen seid«.

Sicher ist es schlimm, dass der Großteil der Gesellschaft uns nicht in unserem So-Sein akzeptieren will und auch nicht wird. Sicher ist es wichtig, das eigene Recht auf lebenswertes Leben einzufordern und sich stark dafür zu machen, aber außer uns gibt es noch viele Minderheiten und unterdrückte Menschen. Christsein kann man nicht nur für sich selbst, sondern nur und vor allem für andere. Eine ist nur Christin, wo sie auch für andere da ist (vgl. Dietrich Bonhoeffer).

Das bedeutet aber auch, dass es durchaus Grenzen christlichen Wohlwollens und menschenfreundlicher Gutmütigkeit gibt. Die Grenzen der Ethik sind erreicht, wo einer den anderen ausbeutet, seinen Willen aufzwingt, auf seine Kosten lebt, ihr keine Chance zur Entfaltung ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit gibt oder auf irgendeine Art vergewaltigt.

Eine kleine hinkende Frau, die keine Christin war, hat am Anfang unseres Jahrhunderts einen Satz gesagt, der für mich einen großen Teil christlicher Ethik beschreibt: »Die Freiheit eines Menschen endet an der Freiheit des anderen.« (Rosa Luxemburg)

9. Und die (Evangelische) Kirche?

Soweit ich weiß, gibt es aus den Bereichen der Kirche keine offizielle Verlautbarung, die sich mit der Transidentität auseinandersetzt. Sicherlich wird es die eine oder andere Predigt oder in irgendeinem Kirchenblatt einen kleinen Artikel zu dem Thema geben. Aber darin spiegeln sich nur die Meinungen einzelner Theologen wieder.

Die Kirche hat sicherlich keine Meinung zu diesem Thema. Wie ich die Kirche kenne, werden alle transidentischen Menschen höchstens als Einzelfälle wahrgenommen.

Natürlich gibt es Transsexuelle, Transvestiten, Trannies, Transgender, Crossdresser in der Kirche nicht nur unter Christinnen und Kirchensteuerzahlerinnen, sondern auch unter den hauptberuflichen Mitarbeiterinnen. Ich weiß von mindestens zwei Mitarbeiterinnen der Evangelischen Kirche, die nach ihrer geschlechtsangleichenden OP ihre Arbeit in der Kirche behalten konnten. Von Pfarrerinnen und Pfarrern oder anderen Geistlichen ist mir allerdings keine Fall bekannt.

Es gibt einen Orientierungstext der EKD (Evangelischen Kirche Deutschlands) aus dem Jahr 1996 zur Frage der Homosexualität, in dem natürlich unser Thema nicht vorkommt, die aber beispielhaft für alle deutlich macht, wie die Evangelische Kirche mit sexuellen Minderheiten umgeht. Diesen Text referiere ich hier – natürlich stark verkürzt:

Im Grunde genommen argumentiert die Kirche in allen Fällen sexueller Minderheiten immer ähnlich wie hier. Würde ein Wort der Evangelischen Kirche über Transidenten, Transsexuelle, Transvestiten, Transgender, Trannies, und Crossdresser verfasst werden, wäre die Argumentation sicher vergleichbar: Die schwarzen Schafe sind natürlich willkommen; auch wenn ihr Lebensstil abgelehnt wird, werden sie diese Menschen aus seelsorgerlischen Gründen nicht verstoßen. Anders sieht es aus, wenn es um bezahlte Mitarbeiterinnen und Menschen aus den Führungsetagen geht. Bestenfalls haben sie eine intensive und langwierige Prüfung über sich ergehen zu lassen und werden dann als Einzelfall behandelt. Das kann zu einer Duldung führen, genauso gut aber auch zur Entlassung. Ich weiß, dass zur Zeit bei dem Überangebot von Bewerbern für den kirchlichen Dienst Lesben und Schwule keine Chance auf Anstellung haben. Ich vermute einfach, dass mit transidentischen Menschen bestenfalls genauso umgegangen würde.

Wenn schon die Evangelische Kirche transidentische Menschen höchstens dulden oder nur als Seelsorgefälle akzeptiert, wie sieht es dann erst bei der Katholischen Kirche aus? Vielleicht ähnlich, ich habe mich damit nicht beschäftigt, finde aber die schönen weiblichen und schwingenden Gewänder der Geistlichen mit Spitzenbesatz sehr feminin und interessant.

10. Schuldgefühle

Nicht genug, dass es für transidentische Menschen kaum gesellschaftliche Akzeptanz gibt, und auch die Familie und Freunde mit dieser Lebensweise überfordert sind, Christinnen / Christen empfinden ihr So-Sein häufig als falsch und schuldig vor Gott und der Kirche und den Menschen.

Das Schwierige an diesen Schuldgefühlen ist, dass sie nicht als Schuld objektivierbar sind. In ihnen schlagen sich Prägungen und Erziehung, gesellschaftliche Werte und kirchliche Moral nieder. Es hilft, sich darüber klarzuwerden, dass zwischen tatsächlicher Schuld und Schuldgefühlen ein himmelweiter Unterschied besteht.

Damit will ich nun nicht behaupten, dass transidentische Menschen schuldlos durch die Welt gehen. Selbstverständlich haben sie Schuld auf sich geladen, wie jeder andere Mensch auch. Jede und jeder, die/der am Spiel des Lebens teilnimmt, wird auf die eine oder andere Art schuldig werden müssen, schon um zu überleben. Mit ihrer/seiner Transidentität aber hat das nichts zu tun, sondern mit ihrem/seinem Menschsein und den Strukturen, die nun einmal so sind wie sie sind.

Schuldig werden wir, wenn wir unser Leben auf Kosten anderer Menschen leben, sie ausbeuten, sie einengen, sie entrechten und sie nur nach unserer Fasson selig werden lassen.

Wir werden nicht deshalb schuldig, weil wir den Moralvorstellungen der Kirche, der anderen Menschen oder auch unseren eigenen nicht gerecht werden. Moral hat auch mit Schuld nichts zu tun, das können wir bei Jesus lernen, der die Frage von falschem und richtigem Verhalten nicht nach den landläufigen Anschauungen seiner Zeit entschied, sondern nach dem, was er von Gott erkannt hatte.

Natürlich bedrängt uns auch die Frage: Wer hat Schuld an meinen So-Sein?

Ich denke aber, diese Frage hilft nicht weiter, sonder verhindert, dass frau/man den Tatsachen ins Auge blickt. Es bringt nichts, so zu fragen. Wer sollte schuld sein daran, wie du bist? Frage Psychologen, Philosophen, Soziologen oder Theologen, du wirst von jedem ein andere Antwort erhalten! Die Eltern, ein Erlebnis aus der Vergangenheit, Gott, die Erbanlagen usw.

Ist es überhaupt schuldwürdig, so zu sein, wie wir sind? Wäre es eine andere Zeit, eine andere Kultur oder Gesellschaft, wäre es gut und richtig, so zu leben. Und manch eine/einer wünscht sich vielleicht in einer Transidenten gegenüber selbstverständlicheren Kultur zu leben. Allerdings hätten wir das mit der Gesellschaft und der Akzeptanz auch viel schlechter treffen können als hier in der Bundesrepublik.

Diese Frage nach der Schuld sollte frau/man ganz schnell ignorieren, denn sie zielt in die Vergangenheit und verhindert, dass wir uns auf die Gegenwart einlassen.

Natürlich laden wir keine Schuld auf uns, wenn wir so leben, wie wir sind. Ist Kleidertragen, ist Schminken Sünde? Wird frau/man schuldig, wenn sie/er versucht, ihren/seinen Weg zu gehen?

Um das oben Geschriebene noch einmal zu wiederholen: Wenn Kleidertragen Sünde wäre, würden viele Frauen Sünderinnen sein. Und natürlich, wird frau/man auf ihrem Lebensweg immer Menschen auch ohne böse Absicht verletzen, enttäuschen und schuldig werden, wie alle anderen Menschen auch schuldig werden. Das aber ist ein menschliches Problem und hat mit Transidentität nichts zu tun.

Die schwierigsten Schuldgefühle, denke ich, entstehen durch Heimlichkeit, ein Problem, das Transsexuelle irgendwann nicht mehr haben, andere Transidenten schon. Einen wichtigen Teil der eigenen Identität verbergen zu müssen, heimlich die Kleider zu tragen, unerkannt (hoffentlich!) durch die Straßen zu schleichen, über Transenwitze mitzulachen, und sich dabei irgendwie schuldig zu fühlen und mit einem schlechten Gewissen durchs Leben zu laufen. Gerade für Christinnen/Christen, die den Satz »Du sollst nicht lügen« verinnerlicht haben, ist das schwer.

Dazu sei kurz geschrieben, dass es diesen Satz »Du sollst nicht lügen« so nicht in der Bibel gibt. Das Gebot heißt: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« und hat zur Zeit des Alten Testaments seinen Sitz im Leben vor Gericht. Falsche Zeugenaussagen waren verboten ebenso wie Meineid. Erst viel später wurde das Gebot zum Verbot der Lüge uminterpretiert.

Wahrscheinlich besteht die einzige Möglichkeit, den aus der Heimlichkeit entstehenden Schuldgefühlen zu entkommen, darin, die Heimlichkeit zu verlassen, aber das wird Konsequenzen fordern, die wahrscheinlich nicht jede und jeder bereit ist, auf sich zu nehmen.

Schuldgefühle sind das Ergebnis der herrschenden gesellschaftlichen Moral und kommen aus unserer Erziehung. Sie lassen sich wohl nicht ganz vermeiden. Aber sie lassen sich tragen und ertragen, wenn frau/man Verbündete, Partnerinnen und Partner, Freunde und Freundinnen hat, mit denen sie reden kann. Das wird sicher nie die ganze Welt sein. Aber, Gott sei dank, für jede und jeden, der und dem du dich so zeigen kannst, wie du bist.

11. Christsein und Transidentität

Wie passt das nun zusammen? Ich denke, es passt! Und wären nicht unser eigenes moralischen Empfinden, unsere Schuldgefühle und unserer Ängste, würde es einfach selbstverständlich sein, als transidentische Christin / transidentischer Christ zu leben. Dabei ist es erst einmal wichtig, die eigene Befindlichkeit zu klären. Gedankliche Klarheit kann zwar nicht die Erfahrung und das Leben ersetzen, aber sie kann beides vorbereiten und zum Gelingen beitragen.

Christlicher Glaube und Transidentität schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und stützen sich. Natürlich gibt es viele Missverständnisse, aber ich hoffe, es ist mir gelungen, die meisten davon auszuräumen.

Es stimmt schon, wir haben uns unseren Körper, unsere Familie, unsere Gesellschaft und diese Welt nicht ausgesucht. Wir wurden so hineingeboren, und keiner hat uns gefragt, ob wir wollten oder nicht.

Wir haben nun zwei Möglichkeiten, mit dieser Erkenntnis umzugehen: Wir können uns von dem Gedanken niederdrücken lassen oder aber wir können dahinter auch einen Sinn vermuten. So, als gäbe es einen Auftrag zum Leben und zum Gestalten dieser Welt, den wir nicht selbst formuliert haben. Als stünde hinter allem Geschehen von den Sternensystemen bis hin zu den kleinsten Partikelteilchen eine Vernunft, die größer ist als menschliche Vernunft. Nennen wir sie Gott, die uns zwar ungefragt, aber nicht zufällig ins Leben hinein gestellt hat. Jede und jeder von uns, jeder Mensch, hat diesen Auftrag zum Leben!

Dieser Auftrag zum Leben orientiert sich an Jesus. Noch wissen wir, wie Jesus war. Obwohl er vor zweitausend Jahren gelebt hat, hat sich die Überlieferung von ihm lebendig erhalten, weil er so überzeugend gut war. Er hat kein konfliktfreies Leben gehabt. Im Gegenteil, er ist fast untergegangen an seiner Unbeliebtheit, die er sich selbst verdankte, weil er statt Hass für Liebe war, für dienen statt herrschen, statt treten für gut sein, für Menschen statt »Leben und Lebenlassen«. Jesus hat sein Leben für alle Menschen eingesetzt. Er hat keinen ausgegrenzt. Jedem hat er geholfen, die Einmaligkeit seines Lebens zu entfalten und seine Möglichkeiten zu nutzen. Paulus hat uns Christen ins Stammbuch geschrieben: »Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.« (Röm 5,7). Das hat denen, die damals die Macht hatten, Angst gemacht. Dafür haben sie ihm das eigene Leben genommen. Sie haben ihn durch die Amtsmaschinerie geschleust, und als sie fertig waren mit ihm, blieb er auf der Strecke. Die Mächtigen waren zufrieden, und alles blieb beim Alten, dachten sie.

Das andere Leben aber konnten sie ihm nicht nehmen. Das hatte er nicht aus sich, und das hat ihn überlebt. Da war in ihm etwas gegenwärtig, was keiner von jenen verstand. Das war zu ewig, als dass sie es hätten kleinkriegen können. Da war etwas in ihm, das gerade die begeisterte, die nichts zu verlieren hatten, die auf ihre erbärmliche Art und Weise über den Dingen stehen.

Das ist es, was mich und andere an ihm begeistert. Wir wissen, wie die Welt ist. Wir haben es oft genug am eigenen Leib erfahren. Die Welt ist voller Ungerechtigkeit, Hunger, Zwang, Leid, Ausbeutung und Unglück. Vieles in dieser Welt macht einfach keinen Sinn. Es ist manchmal zum Verzweifeln. Erfahrungen und Erlebnisse verfolgen uns, Dinge, die man uns angetan hat, werden wir nicht wieder los. Diese Welt ist voll von Geschehnissen, die einfach keinen Sinn machen und auch letztlich keinem nützen. Sehen wir uns mit offenen Augen um, und wir können es kaum aushalten vor Leid, nicht nur das eigene Leiden an unserer Transidentität, sondern vielmehr das Leiden anderer Menschen in dieser Welt.

Und sehen wir uns um bei uns selbst, dann merken wir mit einem Mal, dass wir nicht nur die Opfer sind, dass uns nicht nur Böses angetan wird, sondern dass wir anderen Böses antun. Es gibt vieles, an dem wir selbst schuld sind. Wir sind verstrickt und verwoben in diese Welt; und wenn wir ehrlich sind, können wir manchmal über uns selbst erschrecken. Wir merken dann, dass wir so gar nicht dem Bild entsprechen, dass wir von uns haben. Wir sind nicht so, wie wir gerne sein möchten, wir sind nicht edel, hilfreich und gut. Es ist manchmal schon erschütternd sich selbst zu betrachten. Es gibt allerdings einen, der zu uns steht, wo wir uns kaum noch ertragen können und auch andere nichts mehr von uns wissen wollen.

Wenn wir uns entscheiden, so zu leben, wie wir empfinden, wie wir fühlen, wie wir sind, dann geht es um unsere Zukunft. Wir wissen nicht, was damit alles auf uns zukommt. Wir werden vor schwierigen Entscheidungen stehen, wir werden Angst haben vor der Zukunft und Angst vor Trennungen, Verlusten und auch vor dem Tod. Dabei dürfen wir aber wissen, dass von Jesus eine Kraft ausgeht, die uns versichert, dass wir nie allein sind, dass wir in einer Gemeinschaft geborgen sind, in der niemand verloren geht – auch nicht durch den Tod, eine Gemeinschaft, die Hoffnung hat für die ganze Welt, auch wenn die Zukunft dunkel ist. Mit dieser Kraft ist der Heilige Geist gemeint, der Geist der Hoffnung und der Gemeinschaft, der die Isolierung der Menschen überwindet.

Wenn die Kirche wirklich diese Gemeinschaft des Geistes Gottes sichtbar machen will, dann darf sie sich vor transidentischen Menschen nicht verschließen. Auch sie muss wissen, dass Gottes Schöpfung reichhaltiger und unterschiedlicher ist, als sie bisher angenommen hat. Gott hat uns Menschen geschaffen mit der Gabe, einander zu lieben, mit unseren erotischen und sexuellen Prägungen, und hat uns geschaffen als Männer und Frauen, als Trannies, Transvestiten, Transsexuelle, Crossdresser usw.

Nicht die Transidentität widerspricht dem Willen Gottes, sondern alle Versuche, Menschen auszugrenzen, zu unterdrücken und ihnen zu verbieten, ihr Leben aus dem Geist Christi und der Liebe heraus zu leben.

Die Kirche lebt nur, solange sie offen ist für Eigenarten und Besonderheiten, Fähigkeiten und Begabungen. Jeder Mensch ist eine Bereicherung für die Kirche. Die Kirche kann diese Chance nutzen, mit den transidentischen Menschen zu leben, zu glauben, zu hoffen und zu lieben, oder sie kann sie verpassen und wird ärmer werden. Die Kirche hat keinen Gewinn, wenn Menschen ihre Art zu leben unterdrücken und verbergen müssen.

Auch wir haben auf Dauer keinen Gewinn davon, wenn wir unsere Transidentität verstecken. Es gibt darüber ein schönes Gleichnis im Neuen Testament (Mt 25,14–30). Jesus erzählt von drei Menschen, denen ihr Herr je einen großen Sack mit Talenten (damals Geldstücke) anvertraute. Einer hat es vermasselt, weil er seine Talente nicht eingesetzt hat, sondern versteckt hat. Zwei Menschen aber ist ihr Leben gelungen, sie haben mit ihren Pfunden gewuchert und aus ihren Talenten etwas gemacht. Das war richtig so, hat Jesus gesagt.

Eines der größten und wichtigsten Talente, das uns zum Leben hier auf dieser Welt mitgegeben werden, ist unsere Transidentität. Wer immer dieses Talent, diese Eigenschaft, Eigenart bei sich entdeckt, wird erkennen: sie ist ihm/ihr von Gott anvertraut. Wenn sie/er sich versteckt, wird sie/er ihr/sein Leben verpassen, wenn sie/er aber mit diesem Talent wuchert, wird sie/er seine göttliche Bestimmung erfüllen.

Es gibt keinen ernstzunehmenden Grund für transidentische Menschen, nicht in das Lob Gottes einstimmen zu können: »Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke!« (Ps 139,14)

Nachwort

Dieser Artikel ist ein Anfang, nicht mehr und nicht weniger. Er ist keine einheitliche Dogmatik und wird auch nicht alle Fragen der Leserinnen und Leser beantworten. Er ist deshalb geschrieben, weil ich Antworten gesucht habe und denke, dass es anderen ähnlich geht. Vielleicht wird die Leserin/ der Leser die eine oder andere Antwort auf ihre/seine Fragen gefunden haben.

Im deutschen Sprachraum kenne ich keinen anderen Text, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzt. Falls doch, bitte schickt ihn mir.

Natürlich sind auch meine Überlegungen mit dem Thema nicht fertig, sowenig wie ich mit meiner Transidentität, meinem Christsein und meinem Menschsein fertig bin.

Allen Leserinnen und Lesern, ob ihr euch über meinen Text geärgert habt oder ob ihr ihn hilfreich fandet, wünsche ich: Gott segne Euch!

Am Ende danke ich allen herzlich, die den Entwurf des Artikels kritisch gelesen und mir bei der Überarbeitung geholfen haben!


Die Autorin ist transsexuelle Christin. Sie ist seit über 25 Jahren mit einer wunderbaren Frau verheiratet und hat drei erwachsene Kinder, denen ihr Frau-Sein nichts ausmacht.

Seite angelegt am 09.05.2004, zuletzt geändert am 01.09.2005.